Was hat Religion mit Sexsucht zu tun?

In meiner Praxis begegne ich Menschen, die subjektiv unter ihrem übermäßigen Sexualverhalten leiden. In der Tat ist es ratsam, spätestens dann professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn das Leiden in den Vordergrund tritt. Im Gespräch erfahre ich immer wieder, welche Gewissenskonflikte und Schamgefühle mit dem Leiden verbunden sind.

Das Leiden ist oftmals geprägt von moralischen Vorstellungen, wie ein „normales“ Sexualverhalten aussehen soll. Aber wer bestimmt das eigentlich? Was ist normal und was nicht? Ab wann muss ich mich für mein Verhalten, meinen Phantasien und Befriedigungsritualen tatsächlich schämen? Diese Fragen sind stark von der jeweiligen Gesellschaft und ihrem Wertesystem abhängig, in der Betroffene leben. Und damit auch mit religiösen Glaubensgrundsätzen.

Unterbewusste moralische Vorstellungen

Religion ist Bestandteil unserer Kultur. Selbst wenn wir nicht gläubig sind, ist unser Alltag geprägt von Religion. Wir können uns nicht ganz davon freimachen. Beispiel Christentum: man denke nur daran, dass Ehebruch auch heute noch moralisch verwerflich ist, so wie es in den Zehn Geboten steht. Auch in anderen Religionen haben Glaubensgrundsätze Einfluss auf das tägliche Leben. Beim Thema Sexualität wird das ganz besonders obsolet. In anderen Gesellschaften wird das Thema Sexualität ganz anders bewertet als in der westlichen, vom Christentum geprägten Welt.

Moral bewirkt ein schlechtes Gewissen bei Hypersexuellen

Hierzulande hat Sexualität auch schnell etwas Anrüchiges oder Schmuddeliges. Nacktheit und Freizügigkeit sind längst nichts Selbstverständliches. Viele von meiner älteren Patienten sind noch damit aufgewachsen, dass „das da unten bah ist“. Ich behaupte keineswegs, dass Religion eine Ursache für süchtiges Sexualverhalten ist, aber Religion hat Einfluss darauf, was wir als moralisch richtig empfinden und was nicht. Andere Gesellschaften gehen mit dem Thema Sex ganz anders um als die Westliche.

Meine Patienten leiden oft an Gewissenskonflikten, die zum Teil darauf basieren, dass ihrer Meinung nach Sexualität nach bestimmten Vorstellungen abzulaufen hat. Eine Vorstellung, die automatisch „übernommen“ wurden.

Sexualität frei von Scham

Sobald die Betroffenen aber erkennen (und dabei helfe ich ihnen), was von ihrem Leid mit Scham und Moral unserer Gesellschaft zu tun hat, fällt ein Stein von ihrem Herzen. Für manche ist es wie ein Befreiungsschlag, sich frei von moralischen Vorstellungen zu machen. Wer sagt denn, dass ich nicht onanieren darf? Warum sollte ich ein schlechtes Gewissen haben? Niemand hat mir was zu sagen!

Zwar löst das noch nicht die Suchtursache, die oft im Verborgenen liegt, aber sie löst zumindest eine erste Blockade und macht die weitere Therapie leichter.